Vom Ausschnitt und Würstchen
Ich habe letzte Nacht grottenschlecht geschlafen. Ergo kaum und bin total geschlaucht, mies gelaunt und mies gelaunt.
Es ist Fußball WM.
Der erste Schluck Kaffee hat immer noch einen Beigeschmack von Panik und dem klaustrophobischen Gefühl von Schwarz-Rot-Gold Wimpeln umzingelt zu sein. Als ich mich auf den Weg in den Supermarkt mache, sehe ich überall die bescheuerten Fähnchen schlapp und traurig an den Autofenstern hängen und würde sie am liebsten abfackeln.
Eigentlich wollte ich mir nur fix zwei Sachen schnappen und dann wieder ab nach Hause, aber im Laden wimmelt es nur so von Konsumidioten, die bergeweise Chips und Bier abschleppen, während ich hinter ihnen mit meinen zwei Artikeln vergeblich auf einen Gentleman oder britische-höfliche Etikette warte, damit ich vorgelassen werde. Aber das passiert nicht. Sehr wahrscheinlich haben die auch diese kitschige Fähnchen am Auto oder gehören zu den ganz Verstrahlten, die zu jeder Tages- und Nachtzeit in ihrem Vorgarten auf den verstaubten Vuvuzelas von 2010 rumtröten.
Endlich wieder daheim. Ich bin am Ende, und mit einer Flasche Rotwein und seinem Zwilling auf meinem Balkon.
Leider genieße ich von hier oben einen unfreiwilligen und traumatisierenden Einblick in Frau Möllers busigen Ausschnitt, die zwei Etagen unter mir in High Heels auf dem Rasen rumeiert. Das ist ein schrecklicher Anblick und ich mach erst mal die erste Flasche auf.
Ich genieße den Geschmack des wohltuend, preisgünstigen aber qualitativ, hochgelobten Fusels und glotze erneut in den Ausschnitt. Dieser trägt Schnittchen, Kartoffelsalat, Kühlbox und geschätzte eine Million Papierservietten, die Einlagigen, in den Garten. Ich sehe Herrn Möller. Ernst Möller. Ehemann.
Für ein paar Sekunden unterbrechen ich meinen Weinkonsum, da ich widerwillig fasziniert auf seine Wampe starren muss, und diese starrt zurück. Ich kann fachmännisch erahnen, dass sein mit Stolz präsentiertes Deutschland Shirt den überforderten BMI Wert nicht verhüllen kann.
Ich finde Ernst Möller zunehmend sympathischer, grinse und erlöse die erste Flasche Wein ein wenig von ihrem Luftvakuum und triumphiere bei dem Schauspiel, wie Ernst schnaufend, stöhnend und biertrinkend versucht den Super-Angebot, Super- Preisreduzierten, Super-Schnäppchen Grill zu installieren. Die mühsam, krakeligen aufgeschminkten Schwarz-Rot-Gold Streifen auf seinen gepolsterten Wangenknochen weichen Tropfen für Tropfen dem Schweiß.
Meine Laune wird besser.
Ich kriege einen Schluckauf, eventuell vom Wein. Eventuell von der hautnahen Reality-Doku „Möller gegen Grill“ mit der heutigen Episode „Wie man ein Feuer legt“.
Obwohl ich selber nie grille (lasse mich einladen), ist mir bewusst, dass es nicht allzu ratsam ist, die Kohle in drei Litern Spiritus zu ertränken und dann aus nächster Nähe anzuzünden.
Ich rücke mit meinem Wein ein wenig von der Balkonbrüstung ab, bis sich die Stichflamme nach einigen Minuten erschöpft auf einen Meter zurückgezogen hat und gieße dann den Rest aus der ersten Weinflasche in mein Glas. Die Schminke auf Ernsts Gesicht ist vaporisiert. Aber…die Kohle glüht bilderbuchmäßig.
Jetzt kann ich Frau Möller wieder meine ganze Aufmerksamkeit schenken und bewundere sie mit tiefem Respekt, wie sie auf ihren waghalsigen Absätzen über die Wiese trippelt, Tablett um Tablett rausjongliert, ohne dem Rasen auch nur ein Hälmchen zu krümmen.
Hui, und was sie das alles auftischt. Sieht äußerst deliziös aus. Ich bin ja jetzt schon ein bisschen hungrig.
Mein Kühlschrank ist verwaist und hat nach vier Jahre immer noch die Schutzfolie dran. Aber nicht lange Rumjammern und die zweite Flasche Wein wird geköpft. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass das hilft.
Ich bemerke, wie Möllers erste Gäste nach und nach auf den hämorrhidenfreundlichen Bänken andocken. Der Garten ist nun überschwemmt mit patriotischem Merchandise. Käppis, leicht entflammbare Shorts vom Discounter und Perücken, die tapfer getragen werden, während die Sonne im Zenit steht und der Grill, wenige Zentimter daneben, auf Hochtouren kommt.
Mir ist ein wenig blümerant bis schlecht. Eventuell vom Wein. Nääähh, eher vom Hunger. Doch schwups, bekomme ich eine erstklassige Ablenkung präsentiert und bin wieder voll da. Ich versuche sogar an etwas wirklich trauriges zudenken, nur damit ich nicht johlend Rüberwinke und Klatsche.
Ernst und seine Gefährten zwingen jetzt den sauteuren, saugroßen Flachbildfernseher, mit einem saulangen Verlängerungskabel, in den Garten. Ich höre, wie ein schlechter Ratschlag dem anderen folgt. Das schreit doch nach einem weiteren Glas Wein.
Ich bin ein Opfer akustischer und optischer Ergüsse.
Halbweisheiten aus dem www, der BILD und Fantasie-Ratschläge werden von Links und Rechts auf Ernst abgefeuert, die aber allesamt wie an einem bockigen Teenager abprallen. Doch nach einigen bangen Minuten steht das TV Monster wackelig, mit wenig Bodenkontakt, nahe genug am Grill, den Bildschirm korrekt in die letzten Sonnenstrahlen ausgerichtet… und läuft. Ich stelle traurig fest, dass sich mein Weinvorrat langsam dem Ende neigt.
Von unten dröhnt mir Werbung für Shampoo, Camembert, Doppelherz und Mercedes aus den Lautsprechern entgegen, welche den Anstoß von Deutschland gegen Auenland verkürzen soll, und das Ganze ist mit einem quälend, köstlichem Duft von zärtlich schwarzgebräunten Würstchen durchtränkt.
Ich kippe frustriert den letzten Rest vom Schützenfest in mein Glas und lehne mich übermütig und risikofreudig über die Balkonbrüstung. Gerade, als ich meinen Fehler bemerke und mich wieder wie eine Schnecke in mein Safe House zurückziehen will, lässt Ernst einen Brüll los, dass seine Mandeln bis zur nächsten Hecke fliegen „Frau Nachbarin, wusste ich doch, dass ich sie gesehen habe. So ganz allein?! Einsam, das Sportereignis des Jahrtausends anschauen?! Neinneinnein. Sie kommen jetzt mal schön zu uns runter. Nur keine falsche Bescheidenheit! Bewegen sie ihren knackigen Hintern zu uns, hahaha. Hier herrscht der Spaß, hier herrscht das Leben, hahaha! Hopphopp.“
Das war der Startschuss zum Inferno. Vierzigtausend Augenpaare glotzen zu mir hoch. Die Fähnchen werden geschwenkt, bis sie vom Stängel abfallen. Frau Möller zupft an ihrem Ausschnitt und klimpert mit den Wimpern.
Flashback: Ich bin an meiner Wohnungstür. Ich gehe raus. Ich bin im Garten von Ausschnitt und Ernst.
Ich stürze mich auf die extrem krossen und krebsbefürwortenden Würstchen. (Ich hoffe, dass es Würstchen waren). Ich nehme euphorisch ein Bier in jede Hand. Ich habe ein Käppi auf dem Kopf. Ich schwenke kichernd eine Deutschlandfahne.
Ich lache laut, gröle lauter und flirte mit Ludwig. Ich singe schief, pfeife schiefer und flirte mit Gerd. Ich esse noch ein paar von was auch immer, ich trinke köstliches Bier, ich kotze.
Ich taumel. Eventuell vom Wein-Bier Cocktail. Eventuell, weil mein Albtraum eine neue Dimension erreicht hat. Ich kann mich nicht erinnern.
Ich weiß nicht, wie spät es ist, was für ein Tag, ob wir gewonnen haben, wie ich wieder in meine Wohnung gekommen bin. Ich weiß nicht, wie ich in meinem Bett gestrandet bin, ich weiß nicht, wer mich liebevoll in zwei Daunendecken eingeschlagen hat, so dass mir jetzt der Schweiß ausbricht.
Ich weiß nicht, warum ein Eimer neben meinem Bett steht. Ach so, doch jetzt fällt es mir ein – einen Moment bitte -.
Ich weiß nicht, warum mein Gesicht inklusive Kopfkissen mit orange-brauner Schminke versaut ist. Und zum Henker – Moment, der Eimer war eine vortreffliche Idee – wer ist Ludwig? Wer ist Gerd? Deren Telefonnummern auf zwei Post-it Zettelchen geschrieben, mit Herzchen dekoriert und mit einer Rolle Panzerband an meinem WM Käppi befestigt sind. Ich sag noch einmal dem Eimer Hallo und stelle fest, dass sich Ludwig und Gerd auch in meinen Kontakten auf dem Smartphone verewigt haben. Ich schwöre (mal wieder) nicht zu viel Wein zu trinken, meinen Kühlschrank mit gesunden Vorräten zu beglücken und nicht mit fremden Männer zu schäkern.
Ich gucke noch mal tief in den Eimer, schau auf den Schwarz-Rot-Gold Wimpel in meiner Hand und ich muss lächeln.